Interview: Der Vegan-Boom steht noch bevor

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Frau Gröschl, Ihre Ernährungsorganisation Proveg sagt, dass der richtige Vegan-Boom noch bevorsteht. Wie kommen Sie zu dieser Aussage?

Eine jährliche Wachstumsrate von durchschnittlich 60 Prozent und eine 400 prozentige Umsatzsteigerung seit 2012 belegen, dass das pflanzenbasierte Produktsortiment auch langfristig Bestand haben wird. Dass der eigentliche Boom noch bevorsteht, lässt sich vor allem aus dem stark wachsenden Investment in die Lebensmittelforschung schließen.

Das heisst, die Lebensmittelindustrie und ihre Zulieferer haben erkannt, dass pflanzliche Rohstoffe als Alternative zu tierischen Lebensmitteln immer wichtiger werden und für sie ein zukunftsträchtiges Betätigungsfeld sind?

Die wachsende Nachfrage nach qualitativ hochwertigen, pflanzlichen Produkten treibt besonders die Zulieferer der Lebensmittelindustrie an. Sie erweitern kontinuierlich ihr Portfolio an alternativen Lösungen für Fleisch, Milchprodukte oder Backwaren mit tierischen Inhaltsstoffen. Die Alternativen sind auf funktioneller und geschmacklicher Ebene oft kaum mehr von ihren tierischen Pendants zu unterscheiden.

Die Forschung an alternativen pflanzlichen Proteinen wird auch von der Politik unterstützt.

Die Politik hat die Wichtigkeit des Themas erkannt und investiert entsprechend. Forschung und Verarbeitung innovativer, pflanzlicher Proteine zu Lebensmitteln wird mittlerweile mit Finanzmitteln Geldern des Bundes und der EU gefördert. Neben Deutschland erfahren besonders Zusammenschlüsse in den Niederlanden und Frankreich finanzielle Unterstützung, auch länderübergreifende Netzwerke sind bereits entstanden. Die Kompetenzzentren umfassen sowohl Hersteller und universitäre Forschungseinrichtungen als auch Zulieferer. Gefördert wird die Forschung an den Proteinen, deren Verarbeitungstechnologien sowie deren Modifizierung einschließlich der Entwicklung und Verbesserung der Produkteigenschaften. Ziel sind innovative Endprodukte, die eine geringe Umweltbelastung und eine hohe ernährungsphysiologische Wertigkeit bieten.

Welche Vorteile sind für Verbraucher entscheidend?

Verbraucher sehen in veganen Produkten besonders die Vorteile für das Klima, das Tierwohl sowie die eigene Gesundheit. Mit den steigenden Konsumentenwünschen nach Nachhaltigkeit und Gesundheit bei gleichzeitig gutem Geschmack bilden die Produktbereiche „Frei von“ und „Clean Label“ Schnittstellen zum veganen Sortiment und verstärken sich gegenseitig. Auch bei den pflanzlichen Lebensmitteln werden zusätzliche Forderungen nach Clean Label ständig größer und zunehmend auch verfügbar. Laktosefreie Milch und eifreie Produkte sind häufig in das vegane Produktsortiment integriert.

In einem anderen Forschungszweig spielt der Begriff „clean“ ebenfalls eine Rolle. Da bezieht er sich auf fleisch, das aus tierischen Zellen im Labor gezüchtet wird. Wie sehen Sie hier die Entwicklung?

Das Disruptionspotenzial der weltweit 15 Unternehmen, die aktuell an Clean Meat forschen, ist beachtlich. Das israelische Biotech-Unternehmen Supermeat wird mit Hühnerfleisch voraussichtlich den Anfang machen. Von seinem Erfolg scheint auch sein deutscher Investor, der Geflügelzüchter PHW Gruppe, überzeugt. Die nächsten drei bis vier Jahre werden eine entscheidende Zeit, da sowohl Supermeat als auch der US-Konkurrent Memphis Meat ihre Marktreife anvisieren.

Zunehmend rücken auch andere tierische Produkte in den Fokus der zellulären Forschung…

Ja, im vergangenen Jahr wurde in Italien bereits das erste hartgekochte Ei aus pflanzlichen Proteinen hergestellt. Die kommerzielle Herstellung von veganem Hühnereiprotein, das mit Hilfe von Pilzen hergestellt wird und in Lebensmitteln wie Brot, Milchprodukten und Saucen verwendet werden kann, wird innerhalb der nächsten vier bis sechs Jahren erwartet. Bereits für 2018 plant das Unternehmen Perfect Day seinen Launch mit Milch aus modifizierter Hefe, die echte Milchproteine produziert. Da die Hefe nicht in das Endprodukt gelangt, gilt die Milch als genetisch nicht modifiziert. Hohe Investitionssummen verschafften dem Unternehmen kürzlich die Rahmenbedingungen, um auf industriellem Niveau für den Massenmarkt zu produzieren. Der ursprüngliche Plan, Milchprodukte für den Endverbraucher zu entwickeln, änderte sich nachdem das Interesse weltweiter Lebensmittel- und Molkereiunternehmen stark zugenommen hat. Mittlerweile plant das Unternehmen als Rohstoffzulieferer für Lebensmittelhersteller zu fungieren. Auch deutsche Hersteller sind bereits an Gesprächen und den Lösungen des US-amerikanischen Start-ups interessiert.

Geben Sie uns eine Einschätzung Marktpotenziale und einen Blick in die nahe Zukunft der Ernährung.

Die Industrie für Fleisch- und Milchalternativen wird bis 2020 auf einen Wert von 40 Milliarden Dollar geschätzt. Das allgemeine Verbraucherbewusstsein, bedeutende Investitionen in die Entwicklung nicht-tierischer Lebensmittel und eigene Nachhaltigkeitsanforderungen nehmen stetig zu. Das Fundament unserer Ernährung wird langfristig pflanzenbasiert sein. Für den Markt ist ein business as usual nicht länger möglich.

Simone Gröschl arbeitet bei ProVeg im Bereich Food Retail & Industry. ProVeg ist die weltweit erste international tätige Ernährungsorganisation, die sich für die pflanzliche Lebensweise einsetzt. ProVeg verfolgt das Ziel, den weltweiten Tierkonsum bis 2040 um 50 Prozent zu verringern.